Typen – Beitrag 003

Es war wie Ein-nach-Hause-Kommen. So bringt Walter Reiterer, der Lederhosen Racer aus Mantrach in der Südsteiermark, das Gefühl auf den Punkt, das ihn heuer im Sommer beim Zieleinlauf in Istanbul nach mehr als 4.000 Kilometern beim Transcontinental Race überkam.

In Wahrheit aber war für Walter Reiterer viel mehr als diese 4.299 Kilometer erforderlich, um zu diesem Gefühl zu gelangen. Und zwar sprichwörtliche Kilometer auf dem Rad ebenso wie Kilometer im übertragenen Sinne. Kilometer eines Lebens. Weges. Sozusagen.

Doch Vorsicht: Nach Hause gekommen zu sein heißt für Walter Reiterer etwas ganz anderes als für die meisten. Es heißt nicht, sich endlich auszuruhen. Sich auf die Couch und die Beine hoch zu legen. Abzuschließen mit den Mühen des Weges. Zurückzublicken und zufrieden zu sein.

Nein. Es heißt viel mehr. Nämlich: Zur Ruhe gekommen zu sein. Und zwar deswegen, weil er seit Istanbul weiß, und zwar mit Gewissheit weiß, wo er hin will. Angekommen am neuen Ziel sozusagen. Das ist es. Genau das suchte er. Und nur das gibt ihm die Ruhe und die Energie für seinen weiteren Weg.

Dieses Feature ist der Versuch, den Weg bis hierhin zu skizzieren. Den Weg bis zum neuen Ziel. Und so viel sei vorweg gesagt: Es ist ein verdammt spannender und interessanter Weg. Ebenso wie alles, was noch folgen wird. Aber die Zukunft ist sprichwörtlich eine andere Geschichte.


Der Start: Schwimmen und Skifahren in Mantrach
Wir waren fünf Kinder. Bei uns war die Drehscheibe für alle Kinder des Ortes. Wir verbrachten jede Minute im Freien. Beim Bach. Im Bach. Im Wald. Irgendwo im Ort. Hauptsache draußen.

So beginnt Walter Reiterer den Rückblick auf seine bisherige Karriere. Und diese wurzelt in einer klassischen Wicky-Slime-und-Paiper-Kindheit. Eine Kindheit, wie sie heute oft von der Generation der 40+ und Älteren bemüht wird. Eine, die Walter Reiterer aber tatsächlich so erlebt hat. Im Unterschied zu vielen, die nur darüber sprechen. Und in Wahrheit damals schon nur im Haus herum gesessen und Lego gespielt haben. Ganz nach dem Motto: Die gute alte Zeit.

Aber: Walter Reiterer war wirklich draußen. Spielte und sprang den ganzen Tag im Freien herum. Und wie. Ein super Beispiel für seinen spielerischen Zugang zur Bewegung ist das Schwimmen.

Ich weiß gar nicht, wie ich wirklich schwimmen gelernt habe. Ich kann mich nur erinnern, dass mich mein Vater immer wieder auf den Rücken nahm, mit mir ins Wasser ging und ich genau beobachtete, wie er seine Schwimmbewegungen machte. Und irgendwann bin ich dann selbst geschwommen, ohne dass es diesen einen Moment gab, der mir das bewusst gemacht hätte.

Doch beim spielerischen Zugang zur Bewegung blieb es nicht. Da war noch mehr. Etwas, das man umgangssprachlich als Wettkampf-Gen bezeichnen kann. Auch wenn das wissenschaftlich so nicht belegbar ist, weil es dieses so vereinfacht natürlich nicht gibt. Gemeint ist ganz einfach der Drang, sich zu messen. Bewegung und Sport kombiniert mit Wettkämpfen. Das ist es, was Menschen wie Walter Reiterer antreibt. Und zwar von frühester Kindheit an.

Zum ersten Mal geweckt wurde dieses Wettkampf-Gen, als Walter Reiterer mit dem Skifahren begann. Man glaubt es zwar kaum, aber in Mantrach gab und gibt es einen Skiverein. Und in diesem war Walter Reiterer durch seinen Vater, der ebenfalls ein begeisterter Skifahrer war, bereits mit drei Jahren mit von der Partie. Die Erinnerungen daran sind ebenfalls typisch für die Wicky-Slime-und-Paiper-Generation:

Hinter Mantrach gab es einen schattigen, nordseitigen Hügel. Und weil die Winter damals noch schneereich waren, präparierten wir, d.h. die gesamte Dorfjugend, diesen Hang mit unseren Skiern, steckten Torstangen aus Haselnussholz und fuhren dort den ganzen Winter hindurch jeden Tag Ski.

Es kam wie es kommen musste: Walter war ein Bewegungstalent, fuhr sobald er durfte Skirennen und erreichte als Flachländer Top-Platzierungen bei steirischen Rennen.

Vom Ski aufs Rad: Oder vom Radfahrführerschein zum Langstreckenfahrer 
Beim Skifahren blieb es als Südsteirer natürlich nicht. Mit zehn Jahren bestand Walter Reiterer die Radfahrprüfung und nahm den dazugehörigen Führerschein entgegen. Am nächsten Tag fuhr er mit seinem damaligen Bianchi-Fahrrad mit Schmutzblechen aus. Die Ausfahrt führte ihn nach Graz. Dann weiter nach Feldbach. Und über die südoststeirischen Hügel wieder nach Hause. Somit war er den ganzen Tag über unterwegs. Eine schöne 100er-Runde. Oder sogar mehr. So genau kann er das heute selbst nicht mehr sagen.

Für seine Mutter war es jedenfalls nicht außergewöhnlich, dass sie ihren Sohn den ganzen Tag über nicht gesehen hatte. Das war an freien Tagen normal. Abends, ganz so wie es damals noch üblich war, fragte die Mutter ihren Walter schließlich, was dieser den ganzen Tag über so getan habe. Und als er ihr von seiner Ausfahrt berichtete, konnte sie es zunächst zwar kaum glauben, nahm es dann aber als gegeben hin.

Damals war das anders. So etwas würde heute nicht mehr gehen. Für mich war das aber ganz normal.

Stellt Walter Reiterer schmunzelnd fest. Und er hat Recht: So etwas ist heute undenkbar. Denn: Erstens ist es sehr unwahrscheinlich, dass ein Zehnjähriger heute aus dem Stand dazu in der Lage ist, 100 Kilometer mit dem Rad zu fahren. Und zweitens, dass die Eltern das in Zeiten des Smartphones nicht bemerken würden. Denn: Alles, was heute tagsüber passiert, wird von den Kindern per Smartphone in Bild und Sprache live mitgeteilt. Reality-TV im Kleinen. Sozusagen.

Walters Reality-TV sah freilich anders aus:
Ich sah Straßen als Chancen, Neues zu entdecken. Verbindungen zu finden, die ich noch nicht kannte. Neue Gegenden kennen zu lernen. Mit 14/15 Jahren kannte ich mich daher in der Südsteiermark schon sehr gut aus. Fahrten von 100, 120, ja sogar 180 Kilometer waren für mich ganz normal.

Ein zusätzlicher Motivationsschub setzte ein, als sich Walter Reiterers Vater ein neues Straßenrad zulegte. Um abzunehmen. Doch es kam anders. Denn anstelle von Hüftspeck „verlor“ Walters Vater sein neues Rad an seinen Sohn.

Das neue Rad meines Vaters hat mich natürlich fasziniert. Und da ich damals mit 14 schon beinahe ausgewachsen war, passte es mir wie angegossen. Ich fragte meinen Vater, ob ich mir das Rad für einen Tag ausleihen dürfe, und erhielt die Erlaubnis. Und am nächsten Tag fragte ich wieder. Und auch am übernächsten. Und nach einer Woche gehörte das Rad praktisch mir.

Rückblickend erzählt Walter Reiterer, dass das Radfahren zuerst nur als Training für das Skifahren gedacht war. Doch es kam bald ganz anders.

Start einer Radsportkarriere
Mit 14 und dem neuen Rad bestritt Walter Reiterer sein erstes Bergrennen in Deutschlandsberg.

Ich war damals meinen Konkurrenten in der Jugendklasse körperlich haushoch überlegen. Daher habe ich gleich mein erstes Rennen in Deutschlandsberg mit riesigem Vorsprung gewonnen.

Die Wirkung seines ersten Auftritts auf der Rennsportbühne ließ nicht lange auf sich warten.

Hans Langthaler vom URC Gady Lebring sprach mich noch in Deutschlandsberg an und fragte mich, ob ich für seinen Verein fahren wollte. Ich fragte nur: Das geht? Echt? Und schon war ich dabei.

Von diesem Zeitpunkt an fuhr Walter Reiterer für den URC Gady Lebring und in der Jugendklasse von Erfolg zu Erfolg. Mit Heinz Wiedenhofer und Robert Gutenbrunner hatte er steiermarkweit zwei Hauptkonkurrenten. Diese drei fuhren sich die Siege regelmäßig untereinander aus. Da sein Stammverein ausschließlich zu Bergrennen fuhr und Walter Reiterer aufgrund seiner Stärke und Motivation auch an traditionellen Straßenrennen teilnehmen wollte, musste sein Vater einspringen und seinen Sohn in Eigenregie zu diesen Rennen fahren. Mit einem sehr positiven Nebeneffekt, übrigens.

Mein Vater hat mich immer super betreut und begann schließlich sogar selbst an den Rennen in der Masters-Kategorie teilzunehmen, wo er später sogar einmal den Landesmeistertitel gewann.

Die Frage der Herkunft seines sportlichen Talents wäre damit geklärt.

Während dieser Phase seiner Laufbahn verhalf Walter Reiterer einem der später erfolgreichsten österreichischen Profis zu seinem ersten Vereinstrikot: Peter Luttenberger.

Peter Luttenberger ist zwei Jahre jünger als ich. Ich lernte ihn bei einem „schwarzen“ Rennen in der Südweststeiermark kennen, wo er auf Anhieb zweiter hinter mir wurde. Ich erkannte gleich, dass dieser junge Typ Talent hatte. Und so fragte ich ihn, ob er für unser Team Gady Lebring fahren wolle. Ihm ging es dabei gleich wie mir, als ich damals gefragt worden war, denn auch er fragte: „Was? Das geht?“ Und so war er schon dabei. Wir trainierten viel miteinander und hatten eine Menge Spaß.

Juniorenklasse und Elite: Aus Freude wird Druck
Walter Reiterer gehört nicht zu jenen, die ihre Vergangenheit nur im rosa Licht sehen. Und mangelnde Ergebnisse und Erfolge auf äußere Umstände, Pech und sonstige unbeeinflussbare Faktoren schiebt. Viel mehr hat er einen sehr nüchternen Blick auf den Lauf der Ereignisse.

In der Juniorenklasse wurde es richtig hart für mich. Warum ist leicht erklärt: In der Jugendklasse hatte ich entwicklungsbedingt einen riesigen körperlichen Vorsprung gegenüber meinen Konkurrenten. In der Juniorenklasse schrumpfte dieser und somit kämpften wir alle quasi mit den gleichen Waffen.

Beladen mit der großen Erwartungshaltung von vielen Erfolgen in der Jugendklasse verspürte Walter Reiterer bei den Junioren erstmals etwas völlig Neues: Nämlich: so richtigen Leistungsdruck. Und wie es ist, Erwartungen, insbesondere die eigenen, nicht zu erfüllen.
Denn während er in der Jugendklasse sieben Mal steirischer Landesmeister in unterschiedlichen Bewerben und österreichweit den dritten Platz im Jahrescup holte, reichte es in der Juniorenklasse „nur“ mehr für Top-Ten-Platzierungen in der Jahreswertung.

Noch schwerer wurde es bei den Erwachsenen.

Aufgrund meiner noch immer sehr passablen Leistungen bei den Junioren stieg ich in der Elite gleich in die Klasse der B-Amateure ein. Der Leistungssprung war natürlich noch einmal viel größer als von der Jugend zu den Junioren, denn damals gab es noch nicht einmal eine U23-Klasse.

Die damalige Zeit zeichnete sich durch eine große Spannung aus: Einerseits träumte Walter Reiterer davon, Radprofi zu werden und irgendwann einmal bei der Tour de France zu starten. Und andererseits empfand er den Konkurrenzdruck bei den Erwachsenen zunehmend als schier unüberwindbar.

Walter Reiterers Reaktion darauf war Training und noch mehr Training. Doch sein Körper und seine Psyche konnten der Belastung immer weniger standhalten.

Ich trainierte und fuhr damals mehr als ein Jahr lang mit einer chronischen Mittelohrentzündung. Dann bildete sich auch noch eine Zyste im Mittelohr aus und als diese dann mitten in einem Rennen aufplatzte, musste ich zum ersten Mal in meiner Karriere ein Rennen aufgeben. Es folgte eine OP und langsam aber sicher reifte der Entschluss, den Wettkampfsport sein zu lassen.

Und so kam es schließlich auch. Begleitet von der Frage: Was tun?

Die zweite Karriere: Berufliche Höhenflüge
Die Antwort auf die Frage über die berufliche Zukunft findet sich in der zweiten großen Stärke und Leidenschaft von Walter Reiterer. Es handelt sich dabei um Kreativität, räumliches Vorstellungsvermögen und das alles gebündelt im Thema Innenarchitektur in Verbindung mit Verkauf.
Aufbauend auf der Tischlerlehre absolvierte Walter Reiterer daher eine Ausbildung für Innenarchitektur in Deutschland. Und startete danach seine zweite Karriere, diesmal die berufliche, bei Gröbl und später Lutz.

Meine berufliche Tätigkeit für das Möbelhaus war der neue Leistungssport für mich. Dort ging es für mich ähnlich steil bergauf wie zuvor im Sport. Als Höhepunkt meiner beruflichen Laufbahn sehe ich die Leitung der damaligen „Ambiente“-Linie von Lutz, in der die Möbel-Luxusmarken zusammengefasst waren.
Ich vermute, meine beruflichen Erfolge gelangen mir, weil mir die Tätigkeit in Form der Innenarchitektur an sich lag und weil ich mir im Radsport ein bedingungsloses Durchhaltevermögen angeeignet hatte. Aufgeben kam für mich deshalb ganz einfach nie infrage. Und dadurch habe ich so manches Projekt umgesetzt, das andere gar nie angefangen hätten.

Das sportliche Engagement wurde während dieser Phase seines Lebens auf ein Minimum reduziert, zumal diese Zeit auch mit der Gründung seiner Familie einherging.

Meine damalige Familie bedeutete mir alles und gab mir den nötigen Rückhalt für meine Anstrengungen im Job. Pro Jahr bin ich damals vielleicht 1.000 oder 1.500 Kilometer Rad gefahren. Mehr war nicht drinnen und mehr wollte ich gar nicht.

Die sportliche Neuorientierung nach dem Motto „Versuch und Irrtum“
Als Walter Reiterer die Weichen seines Lebensweges sowohl familiär als auch beruflich neu stellen musste, kehrte der Sport in sein Leben zurück.

Ich wechselte in eine neue Firma und sah meine Kinder nur mehr vierzehntägig an den Wochenenden. Die neue Freizeit nutzte ich voll für den Sport, den ich als neuen Ausgleich für die berufliche Belastung sah.

Die zweite sportliche Karriere von Walter Reiterer ist bis zur heurigen Teilnahme am Transcontinental Race vor allem gekennzeichnet von „Versuch und Irrtum“. Wobei „Irrtum“ sehr hart klingt und nicht als Fehler zu sehen ist. Vielmehr als das Erkennen von sportlichen Wegen, die Walter Reiterer interessiert ausprobierte, dann aber doch nicht weiter verfolgen wollte. Weil sie ganz einfach nicht zu ihm passten.

Meine Grundsportart war immer der Radsport. Aber von meiner Kindheit her nahm ich auch eine gewisse Liebe und ein Talent für das Schwimmen mit. Und nachdem ich zwischenzeitlich bei der Wasserrettung war, lag es für mich nahe, an Triathlons teilzunehmen. So startete ich versuchsweise am Sprint-Triathlon am Sulmsee und wurde dort auf Anhieb sechster, was mir prompt eine Einladung einbrachte, den Sport ernsthaft und in der Eliteklasse auszuüben.

Doch einerseits war Walter Reiterer damals immer noch auf der beruflichen Karriereleiter ganz oben und damit zeitlich sehr gebunden und zweitens nahm er aus dem ersten sportlichen Laufbahnabschnitt die Erfahrung mit, dass er den Leistungsdruck in der Elite als äußerst unangenehm empfunden hatte.

Ich wollte und will den Sport nur mehr als Hobby ausüben und mich nicht mehr einem so großen Leistungsdruck aussetzen. Daher kam eine Triathlonkarriere für mich nicht infrage.

Der nächste Abschnitt führte Walter Reiterer schon näher an seine heutige sportliche Ausrichtung heran. Er startete erstmals bei einem Langdistanzbewerb.

2008 probierte ich in Michlgleinz aus, wie es ist, ein 12-Stundenrennen zu bestreiten und fuhr dort 350 Kilometer. Und dabei spürte ich: Das ist es!

Es folgten Starts beim Race Across Styria und bei umliegenden Straßenmarathons, bevor Walter Reiterer 2011 etwas überraschend ein „Comeback“ im eigentlichen Straßenrennsport gab.

2011 wollte ich noch einmal wissen, ob ich es bei klassischen Bewerben auf der Straße auch noch kann. Und so bereitete ich mich intensiv auf die Weltradsportwoche in Deutschlandsberg vor. Obwohl ich dabei sportlich sehr gute Ergebnisse einfuhr, spürte ich ganz stark, dass ich in diesem Metier nicht mehr richtig bin. Die Straßenbewerbe, das Fahren im Feld, das alles ist mir mittlerweile zu eng, zu stressig, zu wenig erlebnisbezogen und zu sehr ergebnisgetrieben. Nach der Weltradsportwoche war mir klar: Das brauche ich nicht mehr.

Somit kehrte der Fokus zurück zur Langdistanz. Konkreter: Zur extremen Langdistanz. Und wenn man sich als Steirer den extremen Langdistanzen zuwendet, dann stolpert man sehr rasch über den Glocknerman. So auch Walter Reiterer, der 2013 erstmals an diesem Rennen von Graz auf den Großglockner und wieder zurück teilnahm. Und dabei den Lederhosen Racer aus der Taufe hob.

Ein Musikerkollege hatte ein Trachtengeschäft und dort eine Radsportgarnitur im Lederhosen-Look hängen. Das hat mich total angesprochen. Und daraus ist dann sehr rasch die Idee zum „Lederhosen Racer“ entstanden. Ich habe mich dann mit meinem Freund auf einen Deal geeinigt und wir haben von dieser Garnitur mittlerweile weltweit rund 350 Dressen verkauft.

Schmunzelt Walter Reiterer. Vielleicht deshalb, weil er anhand dieses Beispiels sah, dass es sehr gut gelingen kann, sein sportliches Talent mit seinem beruflichen zu verbinden. Doch dazu unten mehr.

Apropos sportliches Talent: Wie nicht anders zu erwarten, etablierte sich Walter Reiterer auch beim Glocknerman sofort im Spitzenfeld, wurde Gesamtdritter auf der Classic-Strecke und gewann im Vorbeigehen seine Altersklasse. 2014 gelang ihm dann mit seinem Schwager im 2er Team erneut ein Sieg beim Glocknerman. Und macht dabei einen weiteren entscheidenden Schritt in seiner sportlichen Entwicklung.

Der Glocknerman an sich ist ein super Rennen. Was ich daran aber nicht mag, ist, dass ich immer ein Begleitfahrzeug im Rücken habe und mich damit für meine Begleiter verantwortlich fühle. Ich denke mir: Wenn meine Betreuer sich die Zeit nehmen, mich tagelang zu begleiten und zu unterstützen, dann muss ich das wenigstens in Form einer entsprechenden Leistung wieder zurückgeben. Und damit habe ich wieder einen Leistungsdruck. Und genau das will ich vermeiden.

Der Zieleinlauf: Das Transcontinental Race von Belgien nach Istanbul
Walter Reiterer suchte daher weiter nach genau seinem Ding. Seinem Bewerb. Seiner Idee von einem Wettkampfformat, das einerseits zwar eine Zeitnehmung enthalten und einer Wettkampfidee folgen, darüber hinaus aber möglichst frei von Einengung, Stress und Abhängigkeit von anderen sein sollte.

Er suchte. Und er fand schließlich das Transcontinental Race (TCR) von Belgien nach Istanbul. Alle Details dazu gibt es auf der Website www.transcontinental.cc . Hier nur die Eckdaten:

Das TCR hat seine Wurzeln in den historischen, den allerersten Tour de France-Austragungen, die die Rennfahrer zu Beginn des 20. Jahrhunderts (1. Austragung: 1903) unbegleitet und mit dem Verbot, Hilfe von Dritten anzunehmen, rund um Frankreich schickten. Und so ist auch das TCR ein unbegleitetes Radrennen über mehr als 4.000 Kilometer, bei dem keine Begleitfahrzeuge oder sonstige Unterstützungsleistungen von außen erlaubt sind.

Die Teilnehmer können sich zwar auf dem Weg ins Ziel überall selbst versorgen, d.h. einkaufen, sogar in Hotels schlafen etc., aber sie dürfen keine organisierten Hilfeleistungen von Begleitern annehmen.

Die Streckenführung ist zudem nur insofern vorgegeben, als dass es auf dem Weg vier Checkpoints anzusteuern und dort einen Stempel abzuholen gilt. That’s ist. Der Rest ist Orientierung, Selbstorganisation, sportliche Kondition und vor allem mentale Stärke. Und somit genau das Richtige für Walter Reiterer.

Die Philosophie des TCR deckt sich zu 100% mit meiner Idealvorstellung von Radsport:
1. Man muss Spaß am langen Radfahren haben.
2. Man muss Interesse und Offenheit für Gegenden mitbringen, die man noch nicht kennt und in die man normalerweise nicht kommt.
3. Man muss das Renngen in sich tragen, denn letztendlich geht es um die Zeit und gegen die Uhr.
4. Man benötigt absolutes Durchhaltevermögen. Und zwar ohne jede Kompromisse. Sonst hat man keine Chance. Es ist schwarz oder weiß: Entweder bin ich bereit. Oder nicht. Man darf gar nicht ans Aufhören denken.

Wie schwer diese Herausforderung wirklich ist, zeigt die Ergebnisliste, die 2015 aus rund 170 StarterInnen nur rund 70 Finisher ausweist.

Und genau das ist es, wonach Walter Reiterer seit seinem Wiedereinstieg in den Sport gesucht hat. Mit diesem Rennen ist er bei sich angekommen.

Doch bevor er in Instanbul ankam, hatte er mit einigen Widersachern zu kämpfen. Darunter von Orkanböen, Gewittern und Regenschauern bis zu extremer Hitze mit quasi allen Elementen. Darunter weiters wilde Hunde und extreme Müdigkeit, die in einem Fall sogar zu vorübergehender totaler Orientierungslosigkeit auf dem Rad führte:

Ich hatte mir eine Strategie für die Durchquerungen von Albanien, des Kosovo und von Mazedonien zurechtgelegt. Und das deshalb, weil ich wusste, dass es dort am gefährlichsten werden dürfte. Daher wollte ich zwar so schnell wie möglich durch diese Länder durch, allerdings nicht zu diesem Preis. Ich bin dann nämlich rund 50 Stunden beinahe ohne Pause durchgefahren.

Irgendwo in Mazedonien bemerkte ich mitten in der Nacht, dass ich auf meinem (beleuchteten) Navi nichts mehr sehen konnte. Autos hupten mich an, wahrscheinlich weil ich schon in Schlangenlinien gefahren bin. Und irgendwo bei Strunica war es schließlich so weit, dass ich mich gar nicht mehr auskannte.

Diese Situation stellte wahrscheinlich die gefährlichste auf dem Weg nach Istanbul dar. Doch genau in dieser spielten Walter Reiterer zwei seiner ganz besonderen Stärken in die Hände: Organisation und Disziplin.

Ich habe mich vor dem TCR mit einem Psychologen darüber abgestimmt, was zu tun ist, wenn ich aus Übermüdung und Erschöpfung im Begriffe bin, die Kontrolle über mich zu verlieren. Und wir haben dafür einen, und nur einen ganz klaren Ablauf besprochen: Sobald ich in so eine Situation komme, muss ich das nächstliegende Hotel aufsuchen und schlafen. Genau das habe ich dann getan, wobei es mir in Anbetracht meiner Verfassung äußerst schwer fiel und nur mit etwas Glück gelang. Im Hotel angekommen fiel ich voll angezogen in einen Tiefschlaf, wachte aber pünktlich zu meiner gewohnten Zeit um halb sieben Uhr in der Früh wieder auf. Nach einem ordentlichen Frühstück fuhr ich gestärkt und motiviert weiter.

Die obige Episode ist nur eine aus unzähligen, die Walter Reiterer über das TCR erzählen könnte und bei Vorträgen erzählt. Die wichtigste dreht sich aber um etwas ganz anderes. Nämlich um die Bedeutung dieses Rennens für seinen sportlichen Lebensweg.

Ankommen und Aufbrechen
Die Einfahrt nach Istanbul, die letzten Kilometer waren für mich wie ein Nach-Hause-Kommen. Es war ein absolutes Hochgefühl. Ich war überrascht, letztlich unter den Top 30 gelandet zu sein. Das war für mich so, wie wenn ich ein ganz großes Rennen gewonnen hätte. Der Respekt der Veranstalter für uns Finisher war riesig. Vor allem aber wusste ich, dass ich endlich ein Rennformat gefunden hatte, das ich liebe und das zu mir und meiner Einstellung passte.

Mit dem TCR fuhr Walter Reiterer letztendlich doch noch seine Tour de France. Allerdings auf seine Art und Weise. Er ist mit diesem Rennen bei sich und seinen wahren sportlichen Wurzeln angekommen. Und was Wurzeln hat, das wächst.

In Walter Reiterers Kopf wachsen und sprießen daher bereits die Ideen für weitere sportliche Vorhaben. Darunter einige Randonneés, das sind Ultra-Langstreckenrennen, die mit Ausnahme weniger Labestationen größtenteils ohne Unterstützung der Fahrer ausgetragen werden. Als „Königin“ der Randonneé-Szene gilt Paris – Brest – Paris, das über 1.400 Kilometer geht und in einem Stück absolviert werden muss.

Die berufliche Laufbahn von Walter Reiterer weist ganz starke Parallelen zur sportlichen Laufbahn aus. Zwar steht Leistung auch dort weiterhin im Fokus, allerdings in einem Umfeld, das für ihn passt.

Ich habe mich vor zwei Jahren hingesetzt und mich gefragt, wo ich beruflich in zehn Jahren stehen möchte. Und dabei wurde mir klar, dass ich dann sicher nicht mehr in so einem Hamsterrad eingesperrt sein wollte, wie ich das damals war. Also dachte ich über meine Stärken nach und stieß dabei auf Kreativität, auf den Sport sowie auf meine Stärke im Umgang mit Menschen und nicht zuletzt im Verkauf. Und so erwachte in mir die Idee, in einem Fitnessstudio als Trainer zu arbeiten. Ich bewarb mich im Injoy in Leibnitz und wurde prompt verpflichtet. Und so wie im Radsport, so kann ich auch beruflich sagen, angekommen zu sein.

Mustererkennung: Was steckt dahinter?
Wenn man sich diesen Lebens- und Erfolgsweg ansieht, stellt sich zwangsläufig die Frage, welches mentale Muster dahinter steckt. Denn, so viel ist klar: Zwar war Walter Reiterers Weg so nicht geplant. Aber deswegen alles dem Zufall zuzuschreiben, wäre ebenfalls zu kurz gegriffen.

Ich habe und hatte immer eine Lebensstrategie, d.h. machte und mache mir immer wieder darüber Gedanken, was ich eigentlich will und wohin ich will. Und da kam vor einigen Jahren der Wunsch auf, mein Leben zu verlangsamen, aber mit Erfolg.

Daraus entstand ein sehr drastischer Schritt in die Reduktion. Ich konzentriere mich seither auf das, was ich unbedingt zum Leben brauche und reduziere meinen täglichen Bedarf an Gütern und Geld auf ein Minimum. Daher kann ich jetzt von einem Job leben, der mir rund ein Viertel von dem einbringt, was ich vorher verdient habe und der mir trotzdem riesigen Spaß macht.

Gleichzeitig kann ich mich voll dem Sport widmen und damit einer in mir angelegten Leidenschaft, die ich seit meiner frühesten Kindheit verspüre.
Gemeinsam mit meiner Partnerin leben wir hier im Schloss Ottersbach beinahe autark, haben inklusive unseres Gemüsegartens alles, was wir zum Leben brauchen, haben uns quasi unser eigenes Reich geschaffen.

Beeindruckt von dieser Geschichte stellt sich abschließend die Frage, welchen Tipp Walter Reiterer anderen geben würde, damit diese ebenfalls so konsequent ihren Weg gehen, ganz so wie er es tut. (WR denkt sehr lange nach.)

Ich bin kein Guru und möchte mich nicht so aufspielen. Mir fallen dazu nur zwei Dinge ein: Erstens, das Leben an sich annehmen, insbesondere überraschende, unbeeinflussbare Wendungen und sich dabei nicht an Kleinigkeiten aufhängen. Und zweitens, vielleicht noch wichtiger: Draufkommen, was einen am meisten interessiert und das machen. Sei es auch noch so banal.

Epilog
Sport als Spiel und Leidenschaft – Leistungssport – Erfolge – Leistungsdruck – Sport-Burn-Out – Karriereende – Übertragen des Musters auf das Berufsleben – wieder Erfolge – wieder Leistungsdruck – Hamsterrad – Reflexion – Erkennen des Musters – Reset – Erkennen des neuen Weges und des neuen Ziels – Und diesen Weg gehen:

Es ist ein Muster, das so mancher Leistungssportler kennt: Alles beginnt mit einer naturgegebenen, mit einer angeborenen Freude an der Bewegung, am Sport. Und mit einem ebenso naturgegebenen, angeborenen Ehrgeiz, sich messen zu wollen.

Wettkämpfe werden für junge Talente in dieser ersten Phase ihrer Karriere als endlose Ketten an Erfolgserlebnissen und emotionalen Höhepunkten empfunden. Sieg reiht sich an Sieg. Das Leben wird als schön empfunden. Erfolge als alltäglich. Der eigene Horizont als unendlich weit. Träume kennen in dieser Phase keine Grenzen.

Es sind diese Anfangs-, die Kindheits- und Jugendjahre, die tiefe, positive, bleibende Furchen in der Erinnerung von Leistungssportlern hinterlassen. Und es ist diese Phase, in die sich viele Leistungssportler ein Leben lang zurück wünschen. Doch: Das ist unmöglich. Wer das kapiert, ist schon einen entscheidenden Schritt weiter.

Zwischen den ersten Erfolgen, einer solchen Einsicht und daraus abgeleiteten neuen Perspektiven liegen oftmals Jahre und Jahrzehnte unerfüllter Erwartungen, großer Enttäuschungen. Liegen Phasen geprägt von Niederlagen, von Hindernissen, von Rückschlägen, Krankheit und Verletzungen. In letzter Konsequenz das Karriereende.

Auf das Ende der sportlichen Karriere folgen fast reflexartig Versuche, das Spielfeld zu wechseln. Das Muster zu übertragen. In anderen Feldern ähnliche Erfolge und positive Emotionen zu erleben wie in den Anfangsjahren des Sports. Allerdings ausgestattet mit den gleichen Denkmustern. Den gleichen Zugängen. Den gleichen Brillen auf das eigene Tun und das Umfeld.

Was dann passiert, ist oftmals ein Déjà-vu: Ähnliche Wege, ähnliche Muster. Was immer fehlt: Die gleichen, intensiven, positiven Erfolgserlebnisse wie in der ersten Karriere.

Was sich gleicht: Dass an einem Punkt des Weges, meist wesentlich früher als in der ersten Karriere, die große Enttäuschung einsetzt.
Viele nehmen das als unvermeidbar an. Bleiben im Hamsterrad. Und in der Erinnerung an die schöne, gute alte Zeit.

Einige wenige geben sich damit nicht zufrieden. Sie gehen in die Reflexion. Und erkennen, dass nur eines hilft: Ein Bruch mit dem Muster. Dieser Schritt stellt an sich eine phänomenale Lebensleistung dar. Sie erfordert Durchblick. Draufsicht auf das eigene Leben. Einen Perspektivenwechsel.

Der nächste Schritt ist nicht minder leicht. Er besteht darin, einen neuen Weg zu finden und diesen konsequent zu gehen. Einen, der tatsächlich ähnliche Zufriedenheit und Erfüllung ermöglicht, wie das unerreichbar, unwiederbringlich Vergangene. Mit neuen Mustern, aber aufbauend auf dem ursprünglichen Antrieb. Den eigenen Stärken. Walter Reiterer ist auf dem besten Wege, genau das zu schaffen.

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