OOBA-008: Out of the Box-Allgemein – Beitrag 008
Komplexität. Sie wird heutzutage oft betont. Muss betont werden. In Anbetracht der zahlreichen Krisen und Probleme. Ohne Lösungen. Bei politischen Ansprachen. In Unternehmensberichten. In den Medien. Schließlich muss es eine Erklärung dafür geben, dass es keine zufriedenstellenden Lösungen gibt. Oder nur vereinfachende. Kurzfristige. Verschlimmbesserungen.
Die Verwender des K-Wortes gehen entweder davon aus, dass jeder es wüsste. Was es damit auf sich habe. Mit der Komplexität. Dass der Begriff intuitiv verstanden würde. Schließlich sind die Probleme ja auch jedermann zugänglich.
Oder sie wollen, dass das K-Wort alle weiteren Fragen darüber, warum es keine Lösungen gibt, im Keim erstickt. Motto: Weiterfragen sinnlos. Alles zu komplex.
Neben den Lösungen für die Probleme fehlen auch Erklärungen für den Begriff der Komplexität. Kaum einer kann diesen erklären. Warum auch? Der Begriff ist die Erklärung. Die Probleme bestehen aufgrund der Komplexität. Das muss reichen.
Mir ist das zu wenig. Daher habe ich mich mit der Komplexität auseinandergesetzt. Und diese Auseinandersetzung werde ich in einigen Blogs teilen. In diesem Blogbeitrag befasse ich mich zunächst mit dem Begriff an sich. Und mit Begriffen um jenen der Komplexität herum, die man benötigt, um überhaupt darüber sprechen zu können. Wie System, Regeln, Modell und Information. In weiteren Beiträgen werde ich mich dann mit den mir bekannten unterschiedlichen Zugängen, in komplexen Situationen zu führen, zu entscheiden und letztendlich Ziele zu erreichen und Zwecke zu erfüllen, befassen.
Ich beginne zum Einstieg mit dem Gegenteil von komplex: linear. Und mit einer Grundsatzentscheidung, die man gleich zum Anfang treffen muss, wenn man mit dem Begriff der Komplexität arbeitet. Diese lautet:
Die Gesetzmäßigkeiten einer als linear betrachteten Alltagswelt unterscheiden sich fundamental von denen einer nicht-linearen Welt.[1]
Im linearen Denken geht man vom Gesetz der proportionalen Wirkung aus: ein leichter Hammerschlag treibt den Nagel ein kleines Stück weiter ins Holz, ein fester Schlag bewirkt entsprechend mehr desselben. Ein kurzer Zaun hält wenige Flüchtlinge ab. Ein langer und hoher Zaun mehr Flüchtlinge.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist es allerhöchste Zeit, sich von diesem linearen Weltbild zu verabschieden. Denn: Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts, also vor mehr als 100 Jahren, wurde die Linearität des Alltagsgeschehens durch die Erkenntnisse der Quantenphysik widerlegt: „Nahezu die gesamte physikalische Ernte wurde zerstört, und mit der Quantenphysik hielt ein neues, nicht-lineares Denken seinen Einzug in die Vorzeigewissenschaft Physik.“[2]
Entscheidendes Merkmal nicht-linearen und somit komplexen Alltagsgeschehens ist dessen Unkalkulierbarkeit: „Kleine Abweichungen haben un-proportional große Auswirkungen, Folgen sind nicht-linear, unvorhersehbar und unkalkulierbar.“[3]
Was bedeutet aber Komplexität konkret? Mir persönlich sagt folgende Formulierung am besten zu:
Komplex ist etwas, das wir nicht durchschauen können, das aber gleichzeitig nicht völlig chaotisch abläuft.
Komplexes Geschehen ist de facto nicht vorhersehbar. Denken wir an ein Fußballspiel. Obwohl Bayern München in jedem deutschen Bundesligaspiel der haushohe Favorit ist, können die Bayern jedes Spiel verlieren. Das passiert zwar nur ein bis zweimal pro Saison, aber man weiß letztlich nie, wann es passieren wird.
Komplexes Geschehen ist de facto nicht vorhersehbar, und folgt dennoch gewissen Regeln. Und daher läuft es nicht völlig chaotisch ab. Ein Fußballspiel etwa folgt nicht nur den Spielregeln, sondern auch sonstigen. Wie z.B. den Regeln der einzelnen Spielsysteme (3-5-2 vs. 4-4-2). Damit verbunden sind unterschiedliche taktische Verhaltensweisen der Mannschaften, z.B. eher offensive oder eher defensive. Wenn man die Spielsysteme zweier Mannschaften vor dem Spiel erfährt, weiß man das Ergebnis zwar noch immer nicht, aber man kann die Spielanlagen der einzelnen Mannschaften und damit gewisse Grundmuster des Spiels (z.B. eine Mannschaft greift tendenziell mehr an und die andere wehrt tendenziell mehr ab und versucht über gezielte, schnelle Gegenangriffe zum Erfolg zu kommen) vorhersehen oder zumindest erahnen.
Regeln in komplexen Systemen werden anhand von Modellen dargestellt. Diese Modelle fassen einzelne Regeln musterhaft zusammen. Das heißt, Modelle stellen zu Paketen geschnürte Regeln dar, die zusammengehören und immer wieder musterartig ablaufen. Modelle verbessern damit das Verständnis für das komplexe Geschehen, weil sie eben wesentliche Regeln des Geschehens offen legen. Die Spielsysteme im Fußball sind solche Modelle. Wer diese kennt und weiß, welche Verhaltensregeln für die einzelnen Spieler und Spielformationen (Verteidigung, Mittelfeld, Angriff) damit verbunden sind, kann ein Fußballspiel und dessen Verlauf wesentlich besser verstehen, als jemand, der gerade einmal die Spielregeln im Ansatz kennt.
Das Kennen und Erkennen von Regeln und Modellen ermöglicht es, komplexes Geschehen besser zu verstehen, und zudem, auf komplexes Geschehen kompetent einzuwirken. Denn: Wer die Regeln und Modelle kennt, kann komplexes Geschehen in-formieren, das heißt, dieses in-eine-Form bringen und damit für eine gewollte Ordnung in der Komplexität sorgen. Information ist in diesem Sinne kein Inhalt, der transportiert wird, sondern etwas, das im komplexen Geschehen Ordnung bewirkt[4].
Für viele komplexe Situationen, wie die Führung von Unternehmen oder das Trainieren einer Fußballmannschaft gibt es diese Modelle bereits. Für neue komplexe Situationen, wie die aktuelle Flüchtlingsthematik, müssen diese erste entwickelt werden.
Wichtig: Wenn man Regeln und Modelle in komplexen Situationen kompetent anwendet, heißt das noch lange nicht, dass aus komplexem Geschehen lineares, planbares wird. Unvorhergesehene, völlig unerwartete Ereignisse sind immer möglich. Aber die gute und richtige Anwendung passender Regeln und Modelle erhöht die Chancen, gute Ergebnisse zu erzielen.
Zurück zum Einstieg. Was also könnten unsere Politiker oder Unternehmenslenker in Anbetracht der explodierenden Komplexität und der damit verbundenen Schwierigkeit, ihre Verantwortungsbereiche so zu führen, dass diese ihrem Zweck gerecht werden, anders machen?
- Zuerst müssen sie die Komplexität innerhalb und außerhalb ihres Verantwortungsbereiches anerkennen. Und verstehen. Sie dürfen die Welt nicht als linear wahrnehmen und sie uns nicht als lineares Geschehen verkaufen. Sie müssen dazu auf bestehende wirksame Grundmodelle zurückgreifen oder für neue komplexe Situationen neue, spezifische Modelle entwickeln. Dies setzt voraus, dass sie die Regeln erkennen, nach denen das komplexe Geschehen musterhaft abläuft und daraus dann die Modelle ableiten. Unvorhersehbarkeiten und Unabwägbarkeiten inklusive.
- In der Kommunikation mit der relevanten Außenwelt (Kunden, Aktionären, Bürgern) dürfen sie nicht nur auf die bestehende Komplexität verweisen, sondern müssen diese erklären. Erklären, welche Einflüsse das Geschehen in ihrem Einflussbereich bestimmen, wie diese zusammenhängen und mit welchen Modellen sie versuchen, das komplexe Geschehen zu steuern. Und das alles in einer Sprache, die einer durchschnittlich gebildeten Allgemeinheit verständlich ist. Ich behaupte, dass das möglich ist. Denn: Wenn man ein Problem gut versteht, ist es in der Regel auch möglich, darüber verständlich zu sprechen.
Was wäre der Nutzen davon? Der Nutzen bestünde zum Beispiel im politischen Kontext darin, dass es Populisten schwerer haben, so viele Anhänger zu gewinnen wie zuletzt. Diese machen sich nämlich erst gar nicht die Mühe, sich mit der Komplexität eines Problems zu befassen. Diese suchen, finden und verkaufen einfache Lösungen. Und in Ermangelung verständlicher Erklärungen der tatsächlichen Komplexität des Geschehens kommen sie damit durch.
Was schlecht ist. Denn: Das Naturgesetz der Komplexität von W. Ross Ashby lautet, dass man Komplexität nur mit Komplexität begegnen darf, wenn man eine funktionierende Lösung oder ein beabsichtigtes Ergebnis erreichen will. Einfache Lösungen für komplexe Probleme klingen daher vielleicht gut, schießen aber in der Praxis weit am Ziel vorbei. Gut zu beobachten ist dieses Geschehen aktuell in Griechenland, wo dem Premierminister die einfachen Lösungen für die komplexe Situation seines Landes gerade um die Ohren fliegen. Und man muss kein Prophet sein, wenn es in Mitteleuropa bald die Zäune sein werden, die uns das gleiche Schicksal bescheren werden.
[1] Backhausen, W. Thommen J.P. (2006: S91). Coaching. Durch systemisches Denken zu innovativer Personalentwicklung. Wiesbaden: Gabler.
[2] Backhausen, W. Thommen J.P. (2006: S53). Coaching. Durch systemisches Denken zu innovativer Personalentwicklung. Wiesbaden: Gabler.
[3] Backhausen, W. Thommen J.P. (2006: S53). Coaching. Durch systemisches Denken zu innovativer Personalentwicklung. Wiesbaden: Gabler.
[4] Vgl. Maria Pruckner (2014). Komplexität im Management 2: InFormation.