OOBA-009: Dreipfeilerweg. Oder wie mein Blog zu seinem Titel kam.

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OOBA-009: Out of the Box-Allgemein – Beitrag 009:

Peter: Stand! Nichts. Peter: Staaaaand! Nichts. Hat er jetzt Stand gerufen? Ich: Peter? Nichts. Ich: Peeeeeter? Peter: Scheiße! Wo bleibst? Tua weiter!!!

Der Wind pfeift! Die Dohlen kreischen. Die Gewitterfront baut sich auf. Es geht auf 14 Uhr zu. Ich bin mitten im Dreipfeilerweg. Konkret. Mitten im zweiten Pfeiler von dreien. In der Hohen Munde Südwand. In der Schlüsselseillänge. Unter der Schlüsselstelle.

Dreipfeilerweg. Eigentlich ein untypischer Name für einen Radsportblog. Anbei die Geschichte darüber, wie der Blog zu seinem Titel kam.

Peter: Stand! Nichts. Peter: Staaaaand! Nichts. Hat er jetzt Stand gerufen? Ich: Peter? Nichts. Ich: Peeeeeter? Peter: Scheiße! Wo bleibst? Tua weiter!!!

Peter Gross ist mein Bergführer. Er steht, hängt oberhalb der Schlüsselseillänge. Gesichert an einem 80 Jahre alten, rostigen Schlaghaken, einem selbst geschlagenen Haken, einigen Friends und sonstigen Keilen. Standplatzgröße: Schachbrett. Ich warte eine Ewigkeit auf dem Standplatz darunter. Höre nichts. Oder doch? Weiß nicht, ob ich schon nachsteigen darf. Peters Sicherung lösen soll. Und die Schlüssellänge in Angriff nehmen darf. Besser: Muss. Denn vom Dürfen im Sinne von Genießen bin ich zu diesem Zeitpunkt unendlich weit weg. Ich möchte alles, nur nicht angreifen. Den Fels. Denn jeder Griff fällt mir mittlerweile schwer. Grund: Keine Kraft mehr.

Hinter uns liegen rund 1.200 Klettermeter. Sechs Stunden seit dem Parkplatz. Über die Grießlehnrinne zur Munde-Südwand. Weg gesucht. Anhand einer Toposkizze. Und gefunden. Gesucht insbesondere den Einstieg in den Dreipfeilerweg. Denn: Keiner von uns beiden war je hier oben. Weder in der Grieslehn, noch in der Südwand. Markierungen gibt es keine. Wer hier herauf will, muss den Weg schon selber finden. Sicherungen (Bohrhaken) gibt es so gut wie keine. Bis auf zwei in der Grießlehn und drei rostige Schlaghaken aus den 30iger-Jahren im Dreipfeilerweg. Mehr ist nicht. Wenigstens muss man die Sicherungen gar nicht suchen. Das Prinzip ist immer dasselbe: Selbst zurechtfinden. Oder bleiben lassen. Weg suchen, Sicherungen selbst anbringen. Punkt.

Stand! Nichts. Staaaaand! Hat er jetzt Stand gerufen? Peter? Nichts. Peeeeeter? Scheiße! Wo bleibst? Tua weiter!!!

Jetzt befinde ich mich also unter den entscheidenden Metern dieser Route. Held oder Huberer. Das wird sich bald entscheiden. Denn für diese Optionen habe ich mich am Einstieg zur Südwand entschieden. Was ist, wenn ich nicht raufkomme? Frage ich Peter nach der Grießlehnrinne am Fuße der Südwand. Als sich diese so beeindruckend vor mir aufstellt, dass ich mir sowieso nicht wirklich vorstellen kann, hinauf zu kommen. Huberer, sagt Peter. Dann nichts. Und schließlich: Dauert 15 Minuten. Dann bist in Innsbruck.

Das ist keine Option, denke ich mir. Und sage nichts.

Stand! Nichts. Staaaaand! Hat er jetzt Stand gerufen? Peter? Nichts. Peeeeeter? Scheiße! Wo bleibst? Tua weiter!!!

Das Scheiße habe ich dann doch gehört. Denke mir selbst: Scheiße. Der macht mit mir etwas mit. Aber egal. Ich muss rauf. Beginne zu steigen. Will beginnen. Aber. Jeder. Griff. Jeder. Zug. Ist. Ein. Kampf. Weil: Technisch bin ich als Hobby-Kletterer an dieser Stelle ohnehin schon am Limit. Außerdem: Fels brüchig ist noch eine Untertreibung. Tatsächlich wackelt jeder Griff, jeder Vorsprung. Und ich bin zum jetzigen Zeitpunkt so gut wie ohne Kraft in den Händen.

Aber. Es geht dann doch irgendwie. Muss gehen. Denn: Huberer = keine Option. Vorbei an einer Stelle, wo sich Peter ordentlich gekratzt haben muss. Blutspuren im Fels. Und immer näher zur Seilschlaufe links oben, die im Wind unschuldig hin und her baumelt. Und die mir Peter von weiter unten als die Schlüsselstelle markierende Schlinge gezeigt hat. Ich kenne die Stelle aus dem Topo. Habe sie auf dem Papier 100 Mal studiert. Schwierigkeitsgrad 5. Die Wand hängt nach links weg, eine Felsschuppe bzw. der darunter verlaufende Kanal sind meine einzige Chance mich zu halten. Unter die Schuppe, in den Kanal, lege ich den ganzen Arm hinein. Presse mein Gewicht so gut es geht in diese Schuppe. Steige auf einen winzigen Vorsprung. Und schiebe mich hoch. Einmal. Dann das Ganze noch einmal. Bin fast bei der Schlaufe. Und höre Peter plötzlich ziemlich in der Nähe. Super! Noch zwei Züge und du bist drüber. Aber: Ich. Leer.

Peter: Zieh! Ich: Ich bin blau! Peter: Setz dich ins Seil. Mach‘ a Pause, dann wird’s schon gehen. Ich: OK.

Da sitze ich also im Seil. Links oben baumelt die Schlaufe. Nur einen halben Meter über meiner ausgestreckten Hand. Und doch unendlich weit weg. Aber: Im Unterschied zum Standplatz. Und im Unterschied zum Fuß der Südwand, bin ich jetzt völlig ruhig. Es geht. Ich weiß es. Lasse mir Zeit. Jetzt ist mir auch die schwarze Gewitterwand Wurscht. Kann daran eh nichts ändern. Zuerst diese Stelle, dann alles andere.

Stille. Wind nachgelassen. Dohlen anscheinend abgezogen. Oder von mir nicht mehr wahrgenommen. Ich kann mich nicht an einen Gedanken in dieser Phase erinnern. Und ich bin mir sicher, ich hatte keinen mehr. Vielleicht, weil jeder bedeutungslos gewesen wäre. Denke ich mir jetzt, im Nachhinein. Peter sagte auch nichts. Zumindest kann ich mich an nichts mehr erinnern. Er ließ mich einfach sitzen. Im Seil. Und half mir damit am meisten.

Dann: Schuppe, Pressen, Schieben, Schlaufe. Ich habe sie in der Hand. Finde einen super Tritt. Ziehe mich hoch und bin drüber. Sehe plötzlich Peter. Er grinst. So wie nur er grinsen kann. Ich weiß, das war es.

Der Rest ist es wirklich. Genuss. Das Gelände ist wieder ein solider 4er, dann 3er. Den 3er beherrsche ich auch müde locker, und der 4er kam mir gar nicht wie einer vor. Wahrscheinlich beflügelt vom Erfolg an der Schlüsselstelle. Wir steigen aus dem Dreipfeilerweg weg aus in die Gipfelflanke hinein, gehen im zweiten Grad frei nach oben. Und als das Gipfelkreuz plötzlich und unvermittelt vor mir auftaucht, ist es um mich geschehen. Bis in jede Haarspitze. Kalt. Warm. Leben. Regentropfen. Gewitter verzogen. Halb vier. Abstieg. Kaiserschmarren und zwei Bier im Strassberghaus.

Warum dieser Dreipfeilerweg? Für mich als Radsportler. Und Nicht-Kletterer.

Die Hohe Munde ist der Hausberg der Telfer. Telfer, so nennen sich die Einheimischen in Telfs in Tirol. Und ich bin ein halber Telfer. Durch meine Mutter. Sie ist eine echte Telferin. Und keine halbe Steirerin. Obwohl sie seit fast 60 Jahren in der Steiermark lebt. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ich war mit sechs Jahren das erste Mal oben. Auf der Munde. Mit der Mutter. Normalweg. Buchen, Munde Kopf, Munde Spitz. Und zurück.  Zwei Jahre später das zweite Mal. Diesmal übers Rauhe Tal (Klettersteig). Meine erste echte Berg-Herausforderung.

Aber. Seit ich mich an die Hohe Munde erinnern kann, denke ich an die Südwand. Beobachte diese als Kind immer wenn ich in Telfs bei der Oma bin. Stundenlang. Tagelang. Von überall aus. Mit dem Fernglas. Freien Auges. Auf der Suche nach Routen. Nach Kletterern. Male mir aus, wie es ihnen oben geht. Wie sie aussehen. Wie sie kämpfen. Und kann mir dabei nie vorstellen, diese Wand je selbst besteigen zu können.

Bis ich vor zwei Jahren mit meinem Onkel (Bergführer) über meine Kindheitserinnerungen an die Südwand spreche. Und er ganz ruhig sagt: Dreipfeilerweg. Den kannst du schaffen. Ich bin schon zu alt dafür. Aber nimm dir einen Bergführer, mach vorher ein paar Trainingstouren und dann geht das. Bestimmt.

Mein Onkel spricht nicht viel. Gerade deshalb wogen diese Sätze für mich so schwer. Gerade deshalb machten diese den Unterschied. Damals wurde mir klar. Am Dreipfeilerweg komme ich nicht vorbei.
Der Rest ist Geschichte. Meine Geschichte mit der Südwand. Mit dem Dreipfeilerweg. Mit Peter. Den Trainingstouren. Der Planung. Einem abgesagten Erstversuch (Schlechtwetter). Und dann dem Wetterfenster am ersten Juliwochenende 2015.

Warum heißt jetzt aber der Blog Dreipfeilerweg? Weil ich den Dreipfeilerweg gegangen bin? Ein Kletter-Hero bin? Und das alle wissen sollen? Nein.

Weil es um Touren, Training und Phänomene geht? Oberflächlich betrachtet, ja.

Aber in Wahrheit geht es darum, warum ich den Dreipfeilerweg gegangen bin. Und ich bin ihn gegangen, weil ich ihn schon immer gehen wollte. Und weil ich es mir nie zugetraut hatte. Bis mir dank meines Onkels bewusst wurde, dass ich gerade deshalb nicht daran vorbeikomme. Und weil ich seither weiß, wie schön es ist, sich dem zu stellen.

Fakt ist gleichzeitig: Im Klettersport werde ich nicht heimisch. Dort gibt es für mich keinen zweiten Dreipfeilerweg. Aber im Radsport gibt es derer für mich noch viele. Dolomitenpässe. Belgische Klassiker. Tour de France-Ikonen. Der Balkan. Das Erzgebirge. Und noch viele Routen vor meiner Haustüre. Am Pohorje-Gebirge. In den Steiner Alpen. Bis hinunter nach Triest. Und vieles mehr.

Alles sprichwörtliche Ziele, die ich gerne ansteuern würde. Von denen einige sehr aufwändig sind. Einer guten Vorbereitung und Planung bedürfen. Die aber vielleicht gerade deshalb sehr viel mehr zurückgeben, als an Vorbereitung erforderlich ist.

Der Dreipfeilerweg als Titel meines Blogs soll mich immer wieder daran erinnern, diese Ziele nicht ewig auf die lange Bank zu schieben. Denn: Wege und Erfahrungen entstehen durch das Gehen. Oder Radeln.

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